Fotografien Christa Baumberger und Teo Hüssy, Marseille, Frankreich, 2023.

Street Art | Marseille

Street Art ist ein Markenzeichen von Marseille. Die Quartiere Panier, La Plaine und vor allem Cours Julien sind voll von Graffitis: In knalligen Farben und riesigen Lettern springen sie einen von den Fassaden an. Die Spraydose heisst auf Französisch ja auch «la bombe». «Révolte ou quoi?!», schreit ein Mann mit Colt und roter Blutspur von der Wand, darunter heisst es «FIEVR» (Fieber), rundherum sind Tags von Crews und Künstler:innen wie Bobar, PTO oder Cofre, der 2017 mit nur 19 Jahren bei einer Sprayaktion in Athen tragisch starb. Die Spraydose spricht eine Sprache, die hier alle verstehen. Mir kommen die Tags vor wie riesige farbige Schreie. Ihre Botschaft: ICH. BIN. HIER. Und es ist ja so: Die Mauern bieten allen Platz, die sonst in dieser lauten und roughen Stadt nur allzu leicht an den Rand gedrängt werden.

Street Art ist aktivistisch, es ist eine Rückeroberung des urbanen Raums, sie entsteht im Dunkel der Nacht und jenseits der Grenze des Legalen. Auflehnung, aber auch die pure Lust am Spiel mit Sprache lassen in Marseille seit den 1980er Jahren immer neue Formen entstehen. Kraken etwa lässt seine Oktopusse von Paris bis Marseille über die Wände gleiten. Längst sind die lokalen Geschäfte aufgesprungen und haben Graffiti-Artist:innen engagiert für einen unverkennbaren Look. Ihre knallbunten Bilder reihen sich in den Strassen aneinander, sie nehmen spielerisch Bezug auf die Stadt und ihre Wahrzeichen: Das Meer, die Sonne und die Basilika Notre-Dame de la Garde, die hoch über Marseille thront. Beim lokalen Schachclub Marseille Passion Echecs spiegelt sie sich im Sonnenuntergang.

Denkt man bei Graffiti vor allem an Bilder, so fallen in Marseille die vielen Wortspiele auf: La dactylo ist die Poetin unter den französischen graffeurs. Ihre verspielten Textbotschaften, die sie mit Schablone auf die Mauern platziert, sind längst Kult. Einer heisst: «Il vaut mieux dépenser des pensées». Sie selbst verschenkt ihre Gedanken grosszügig an die Passant:innen. Andere drücken die Vokale aus den Wörtern, bis die Probleme nur noch PRBLMZ sind. Neben Wut ist die Liebe die grosse Antriebskraft. Der schönste Spruch stammt von der Sprayerin PÖ: «Ya pas kelkun ki veux tombe amoureu de moi?» Gibt’s hier jemand, der/die sich in mich verliebt? Ruft sie über das Häusermeer. Ja, klar! Rufen wir zurück. Du hast unendlich viel Liebe verdient – und nicht nur du! Alle Menschen hier – und nicht nur sie! Auch die ganze Stadt Marseille, mit all ihrer Schönheit und ihrem Schmutz, dem Meer und den Mietskasernen, den Stränden und Streunern.

Mehr zur Street Art-Szene in Frankreich: QG des artistes


Fotografien Miklós Klaus Rózsa, Zürich, 2021.

Stolpersteine | Zürich und Europa

«Weil jede Einzelne, jeder Einzelne uns angeht. Weil nur in Erinnerung bleibt, was wir uns in Erinnerung rufen. Weil nur jene im Gedächtnis bleiben, an die wir uns erinnern können.» So die Grundidee der Stolpersteine. Das Kunstprojekt wurde 1992 von Gunter Demnig initiiert, seither wurden in ganz Europa über 85'000 Stolpersteine platziert. Es gilt als grösstes dezentrales Mahnmal der Welt. Stolpersteine sind Gedenksteine für die Opfer des Nationalsozialismus, sie werden im Angedenken an einzelne Menschen vor dem Wohnhaus auf der Strasse ins Pflaster gesetzt, mit dem Ziel, ihre Namen, ihre Gesichter und Geschichten in Erinnerung zu rufen. Jeder Stolperstein steht für ein individuelles Schicksal – auch in der Schweiz: Der Stolperstein an der Rotwandstrasse 45 in Zürich-Aussersihl erinnert an Sara Sabine Pommer (1900–1942). Sie wuchs im Kreis 4 auf und zog nach ihrer Heirat 1919 nach Wien. Nach dem «Anschluss» Österreichs 1938 wurde ihr die Rückkehr in die Schweiz mehrfach verwehrt, obschon ihre Mutter und die Geschwister immer noch in Zürich wohnhaft waren. 1942 wurde sie in Auschwitz ermordet – die Einreisebewilligung kam zehn Tage zu spät. An Henrika «Yettli» Sigmann (1899–1943) erinnert der Stolperstein an der Langstrasse 6 in Zürich. Sie verlor nach der Heirat mit einem galizischen Juden 1922 das Schweizer Bürgerrecht, das Paar liess sich in den Niederlanden nieder und hatte fünf Kinder. Nach der Deportation ins Transitlager Westerbork hoffte sie, das ehemalige Schweizer Bürgerrecht zurück zu erhalten, doch der Bundesrat hatte dieses Gewohnheitsrecht bereits 1941 aufgehoben. Sie, ihr Mann und die zwei ältesten Söhne wurden nach Auschwitz deportiert, wo sie unmittelbar nach der Ankunft am 21. Januar 1943 ermordet wurden. Die drei jüngeren Kinder überlebten in einem Kinderheim im Lager Westerbork.   

Lesen Sie weiter: Sara Sabine PommerHenrika «Yettli» Sigmann

Weitere Informationen: Verein Stolpersteine Schweiz
Fotografien: Miklós Klaus Rózsa


Fotografien Esther Kempf, Schweiz, 2013.

Esther Kempf
Streifzüge | Schweiz

«Man braucht nicht viel Besonderes zu sehen. Man sieht so schon viel …», heisst es bei Robert Walser. Unter allen Schweizer Autor:innen ist er der wohl berühmteste Spaziergänger. Gut möglich, dass die Zürcher Künstlerin Esther Kempf (*1980) Robert Walser im Ohr hatte, als sie sich zu Streifzügen durch Zürich und in die Schweizer Provinz aufmachte. In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit der menschlichen Wahrnehmung: Wie wir unsere Umgebung sehen, verstehen und benennen. Besondere Wichtigkeit hat dabei die Sprache; auf originelle Weise führt sie die Mehrdeutigkeit von Wörtern vor. Die hier gezeigte Fotoserie von 2013 versammelt Ortstafeln, Strassenschilder, Werbeplakate und Firmenschilder. Und siehe da: Der öffentliche Raum ist bevölkert mit Autorinnen und Autoren.

Die Gebrüder Grimm, die im 19. Jahrhundert die deutschen Lande auf der Suche nach Märchen und dem deutschen Wortschatz durchstreiften, sind heute mit dem Lastwagen unterwegs. Der Feuilletonist Joseph Roth (1894-1939), der während zehn Jahren in Hotels lebte und vorwiegend in Cafés schrieb, lässt nun sinnigerweise auf Baustellen Schönes entstehen. Das Ortsschild «Schwarzenbach» birgt sogar einen doppelten Bezug: Es lässt an die Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) denken, die in den 1930er Jahren als eine der ersten Frauen weite Asienreisen unternahm und nach der Machtübernahme Hitlers aus dem besetzten Österreich berichtete. Es verweist aber auch auf eine der umstrittensten Schweizer Abstimmungen im 20. Jahrhundert: die Überfremdungsinitiative von James Schwarzenbach vom 7. Juni 1970. Das Pflanzencenter mit der Davidstatue von Michelangelo treibt mit Urs Widmer (1938-2014) auch seinen üppigen Roman «Im Kongo» (1996) wieder ins Bewusstsein. Der wohl drängendste politische Zeitbezug äussert sich allerdings beim Werkzeuggeschäft Brecht: Es lässt an Bertolt Brecht (1898-1956) und sein Stück «Das Leben des Galilei» denken, in dem es heisst: «(…) und eure neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten.» Ein zeitloses Stück über Machtmissbrauch durch Ideologie und Religion, über Wissenschaftsfeindlichkeit, Verschwörungstheorien und Populismus, der absolute Wahrheiten setzt.

Esther Kempf: Schriftsteller und Schriftstellerinnen im öffentlichen Raum, 2013. Die Serie von 11 Postkarten kann bezogen werden bei: esther.kempf@gmail.com | estherkempf.com
Zu Brecht empfehlen wir den multimedialen Essay von Stephan Suschke: «Brecht & Galilei: Ideologiezertrümmerung. Ein kleines Lehrstück über Wahrheit, Glaube und Macht», in: Deutschland Archiv, 20.01.2021.


Fotografien Philipp Schütz, Somaliland, 2014-21.

Schilderbilder | Somaliland 

Handgemalte Schilder sind allgegenwärtig in Hargeysa, der grössten Stadt in Somaliland, in der gut 800'000 Menschen wohnen. Einer von ihnen ist Naqib, der jahrzehntelang im Westen gelebt hat; er sitzt in einem Teehaus in der Innenstadt und meint: «In den USA wäre ich niemals auf die Idee gekommen, Reklametafeln zu fotografieren – jetzt, wo ich wieder hier bin, sind die bunten Schilder so ziemlich das einzige, wovon ich ständig Fotos mache».

Die farbenprächtigen Bilder zieren die Aussenwände zahlloser Geschäfte, die Lebensmittel, Produkte des täglichen Bedarfs oder Dienstleistungen anbieten. Viele, die nach Hargeysa kommen, sind überrascht wie ‹visuell› die Stadt ist. Die Schilder in satten Farben mit ihren lebhaften Sujets sind aber nicht nur von einem kulturellen, sondern auch von einem künstlerischen Standpunkt aus interessant: Die Gemälde sind sorgfältig gestaltet und virtuos ausgeführt – ein offener Mund, der Zähne zeigt, flatternde Geldscheine, dampfende Teller, frisches Obst, eine Kühltruhe und die darin verwahrten Getränke. Der Grund für diese Schilderkultur ist einfach: Lange Zeit war Analphabetismus weit verbreitet in der Region. Die sprechenden Bilder waren auch für den Teil der Bevölkerung verständlich, der nicht oder kaum lesen konnte. Sie weisen den Weg zum Zahnarzt, in die Wechselstube, ins Restaurant oder in den Lebensmittelladen.

Auch heute sind in Hargeysa noch über ein Dutzend autodidaktischer Schildermaler tätig. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt schenken der Gestaltung der Bilder meist keine weitere Beachtung, und allmählich nehmen auch in Hargeysa dieselben lieblosen, gedruckten Schilder überhand, die das Gesicht der meisten Städte auf der Welt prägen. Erst der Blick ‹von aussen› erkennt die Schilderbilder als einen wichtigen Bestandteil des Strassenbildes von Hargeysa, ja, vielleicht sogar als eine eigene Kunstform. Naqip, der Rückkehrer sieht das so, und auch Philipp Schütz, der die Schilder seit 2014 in einem Langzeit-Fotoprojekt dokumentiert.
 

Philipp Schütz hat 2012-2020 in Äthiopien das Verlagshaus Ayaana Media & Publishing aufgebaut und geleitet, das sich der Kunst und Literatur im Horn von Afrika widmet. Litar hat 2021 das Somali-Poetry-Projekt von Ayaana unterstützt, das die mündliche Erzählkultur des Somali-Volkes mittels Tonaufnahmen dokumentiert und archiviert. Zusätzlich wurde 2021 ein Poesie-Wettbewerb für Somali-Dichterinnen in Jigjiga (Äthiopien) durchgeführt
www.ayaana.net | philippschutz.com


Fotografien Pier Nello Manoni, Volterra, 2009.

Fernando Oreste Nannetti «Buch aus Stein» | Volterra 

Ein steinernes Buch – ein einmaliges Werk, rätselvoll und vergänglich. Fernando Oreste Nannetti (1927-1994) hat es im Innenhof der psychiatrischen Klinik von Volterra in die Fassade geritzt. Acht Jahre lang (1959-1961 und 1968-1973) bearbeitete er Tag für Tag mit der Gürtelschnalle das Mauerwerk, bis die Inschriften sich schliesslich über mehr als 70 Meter hinzogen. Bereits 1979, als die Klinik für immer geschlossen wurde, waren die Graffitis stark verwittert. Heute sind die Mauerinschriften fast gänzlich abgeblättert und nur noch an wenigen Stellen überhaupt sichtbar.

Nannetti, der 1954 die Diagnose Schizophrenie erhielt und 1956 wegen Beamtenbeleidigung erstmals interniert wurde, kam 1959 in die psychiatrische Klinik von Volterra. Bis zu seinem Tod 1994 verbrachte er fast vier Jahrzehnte ohne Unterbruch in Anstalten. In Volterra hatte er einzig mit dem Pfleger Aldo Trafeli, der sein künstlerisches Schaffen unterstützte, näheren Kontakt. Sonst zog er sich ganz in seine eigene Welt und ins Schweigen zurück. Dass es sich um eine schöpferische Stummheit handelte, belegen seine Graffitis. Man kann sie als eine besondere Art der Auflehnung gegen eine Institution verstehen, die ihm die Freiheit verwehrte, zugleich aber auch viel Raum zur kreativen Entfaltung bot. Die Inschriften offenbaren denn auch eine ungeahnte sprachliche Kreativität. Seine Arbeitstechnik ist bemerkenswert: Zuerst ritzte N.O.F. 4, wie er sich nannte, Rechtecke von etwa 120 x 120 cm in die Wand und schuf sich damit sein «Papier». Da hinein platzierte er seine Botschaften und versah sie mit Zeichnungen von Menschen, Tieren, Gebäuden oder Sternen. Poetische Glanzlichter («Wie ein freier Schmetterling bin ich die ganze Welt gehört mir und ich bringe alle zum Träumen») stehen umstandslos neben dem Menüplan («Der Teigwarenesser Spaghetti mit Tomatensauce») und Botschaften, die er über Telepathie aus dem All empfing. Eine ebenso faszinierende wie delirierende Welt zwischen Traum, Fantasie und Wirklichkeit.

Die Fotografien von Pier Nello Manoni stammen aus dem Ausstellungskatalog der Collection de l’Art Brut: Nannetti. Hg. von Lucienne Peiry. Lausanne, Infolio 2011.


Flugblattkunst 1980 | Zürich

Zürich 1980: Eine Stadt in Aufruhr, die Jugendlichen protestieren und fordern, fordern, fordern – Freiraum, Lebensraum, Kunstraum. Sie wollen alles, und zwar subito! Ein heisser Sommer steht bevor…

Lange vor dem Dauerrauschen in Social-Media-Kanälen sind Flugblätter das Sprachrohr der 80er-Bewegung. Es wird getextet und gestaltet, kreiert und kopiert, was das Zeug hält. Aus heutiger Sicht sind diese Flugblätter mit ihren Botschaften und Aufrufen (oft zu Demonstrationen) viel mehr als ein reines Agitprop-Instrument. Die «Flugis» verbinden Politik, Aktion und Kunst. Geschaffen sind sie aus Wut oder Verzweiflung, formuliert mit heiligem Ernst, aber auch mit Humor und (Selbst-)Ironie. Im gelungensten Fall entstehen Sprachkunstwerke, die heute noch elektrisieren, an dadaistische Collagen erinnern und ästhetisch visionär weit über die 80er-Jahre hinausweisen.

Eugen Stiefel (damals Präsident der Kreisschulpflege Limmattal) ist es zu verdanken, dass die «Flugis» nicht einfach im Müll gelandet sind. Silvan Lerch und Peter Bichsel haben diesen «Schatz» gehoben und eine Vielzahl der Dokumente in einem wunderschönen Band herausgegeben: «Autonomie auf A4. Wie die Zürcher Jugendbewegung Zeichen setzte. Flugblätter 1979-82». Zürich, Limmat Verlag 2017. Seither befinden sich die (Er-)Zeugnisse bewegter Zeiten als Sammlung im Bestand des Sozialarchivs Zürich.

Was meinen 80er-Aktivist:innen im Rückblick zu ihrer Flugblattkunst?

«Was mir am Flugblatt gut gefiel, war, dass es allen als Sprachrohr dienen konnte.» Elinor Burgauer

«Die Flugblätter waren Ausdruck unserer Autonomie.» Olivia Heussler

«Flugis waren kreativ, pointiert, frech – und gratis für die Abnehmer, also das ideale Propagandamittel. Mit ihnen konnten wir Menschen auf eine sehr direkte Art ansprechen.» Markus Kenner

«Flugis beinhalten zwar meist Aufforderungen. wir aber nutzten sie als Plattform, um uns in freier künstlerischer Form zu äussern.» Barbara Hiestand / Christoph Müller 

«Ich gebe dir mein Flugi, du gibst mir deins. Das war eine Form von Netzwerkaufbau.» Josy Meier

Die hier präsentierten Flugblätter sowie alle Zitate stammen aus dem Band «Autonomie auf A4». Hg. von Silvan Lerch und Peter Bichsel. Zürich, Limmat 2017. Der Band ist leider vergriffen. Mit herzlichem Dank an die Herausgeber, den Limmat Verlag und das Sozialarchiv Zürich für die Abbildungen.


Katharina Cibulka: Solange | Courtesy the artist, 2020, Fotos: Florian Biber, Katharina Cibulka, Bernd Hofbauer

Katharina Cibulka «Solange» | Wien, Innsbruck, Rabat

200 bis 400 Quadratmeter gross sind die Kunstwerke der österreichischen Künstlerin Katharina Cibulka (*1975), und ähnlich gross sind auch die gesellschaftlichen Missstände, wenn es um die Gleichberechtigung der Geschlechter geht. Die Schweiz hat in Sachen Gleichberechtigung bis heute Aufholpotenzial. Gerade einmal fünfzig Jahre sind es her, dass mann den Frauen das Stimmrecht zugestanden hat. Hat sich das Problem seither erledigt? Nein! meinen die über 500 000 Demonstrantinnen, die am zweiten Schweizer Frauenstreik 2019 auf die Strasse gingen. Es gibt noch viel zu tun!

(Wie lange) müssen wir uns noch für Gleichberechtigung einsetzen oder haben wir den Gipfel der Emanzipation bereits erreicht? Für das interaktive Kunstprojekt «Solange» hat Katharina Cibulka unzählige Personen zum Thema Feminismus befragt. Statt zum Megaphon greift die Künstlerin zum Kabelbinder und stickt ihre Slogans im klassischen Kreuzstich auf die Gerüstnetze von Grossbaustellen rund um die Welt:

Solange Macht dazu verführt, Frauen zu missbrauchen, bin ich Feminist.

Solange Gott einen Bart hat, bin ich Feminist.

Solange Frauenpower als Energiequelle unterbewertet ist, bin ich Feministin.

Die riesigen Botschaften prangen unübersehbar in den Stadtzentren von Wien, Innsbruck, Rabat (Marokko) und an vielen weiteren Orten: Es sind klare Ansagen, gespickt mit pointiertem Wortwitz und Humor. Sie legen gesellschaftliche Machtstrukturen offen und regen zur Diskussion an. Das Jubiläumsjahr 2021 ist der perfekte Zeitpunkt, um das Kunstprojekt endlich auch in der Schweiz zu zeigen. Denn 50 Jahre Frauenstimmrecht Schweiz genügen nicht. Die Frage steht noch immer im Raum: (Wie lange) bist du Feministin? Solange … 

«Solange» wurde bereits an 14 Orten gezeigt, nur in der Schweiz noch nie. Falls Sie eine geeignete Baustelle kennen, so schreiben Sie an: info@litar.ch oder Instagram: @solange_theproject  

Weitere Informationen: katharina-cibulka.com


Thomas Hirschhorn: Robert Walser-Sculpture  | Courtesy the artist, 2019. Fotografien: Christa Baumberger

Thomas Hirschhorn «Robert Walser-Sculpture» | Biel

«Ich habe Robert Walser versprochen, das zu machen», sagt der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn (*1957), der mit seinen partizipativen Installationen international grosse Bekanntheit erlangt hat. Was? Keine Skulptur. Als Hommage an den grossen Schweizer Autor Robert Walser baute Thomas Hirschhorn im Sommer 2019 auf dem Bahnhofplatz in Biel eine Stadt in der Stadt und sprayte Walsers Texte auf Sperrholz.

An Thomas Hirschhorns Robert Walser-Sculpture kam im Sommer 2019 niemand vorbei. Vor dem Bahnhof in Biel wurde man mit Transparenten empfangen: «Be an Outsider! Be a Hero! Be Robert Walser!» Mitten auf dem Platz eine wachsende, pulsierende, überbordende Robert Walser-Township aus Sperrholz und braunem Klebeband. Eine Stadt aus Holzverschlägen, in denen gezimmert, gekocht und gedichtet wurde. Schmale Gänge führten über Brücken zu Plätzen und Nischen und manchmal auch ins Nirgendwo. Mittendrin eine Arena mit einer offenen Bühne für alle, die sich zu Robert Walser oder zum Stand der Welt äussern wollten. Und das waren viele. Thomas Hirschhorns wollte kein Museum, sondern einen lebendigen Ort der Begegnung und des Dialogs schaffen: «Es geht nicht um Kultur, es geht nicht um Architektur. Die Menschen sind wichtig, nicht die Plattform. Die Menschen machen die Skulptur». 

Das Präsenz- und Produktionsprojekt wurde im September 2019 vollständig abgebaut, doch Robert Walsers Werk bleibt bestehen. Man kann es zwischen Buchdeckeln lesen oder in dieser Fotoserie auf Sperrholz entdecken.


Lawrence Weiner: Ball bearings or round stones | Courtesy the artist and Mai 36 Galerie Zurich. Fotografien: Christa Baumberger

Lawrence Weiner «Ball bearings or round stones …» | Zürich

Bellevue, Helvetiaplatz, Limmatplatz – drei stark frequentierte Plätze mitten in Zürich.  Tausende Passanten überqueren sie täglich, kaum jemand sieht auf den Boden. Auf jedem der Plätze sind jedoch drei Stahlplatten in den Asphalt eingelassen. Auf Deutsch, Englisch und Italienisch heisst es da:

 

// Kugellager oder runde Steine zum Rollen gebracht ausserhalb was ist //

// Ball bearings or round stones made to roll outside of what there is //

// Cuscinetti a sfera o ciottoli levigati fatti rotolare al di fuori da ciò che è //


Das dreiteilige Werk stammt vom US-amerikanischen Konzeptkünstler Lawrence Weiner (1942-2021). Er verwendete mit Vorliebe Sprache als künstlerisches Material. Aus Wörtern und Sätzen destillierte er Aussagen, die in ihrer Kürze und Offenheit zum Nachdenken anregen. Seine Sprachbilder treten in einen Dialog mit der Umgebung und den Menschen. Der Künstler übersetzte selber, er folgte dabei nicht den gängigen Sprachregeln, sondern den Regeln seiner eigenen Kunst. Damit forderte er unser Verstehen heraus.

Weiners Werk lädt ein, für einen kurzen Augenblick innezuhalten. Es stellen sich Fragen: Verfolge ich den geraden Weg und gehe darüber hinweg oder weiche ich aus? Wohin führt dieser Schritt? Und welche 'runden Steine' bringen etwas ins Rollen? 

Weiner setzte etwas in Bewegung: Gedanken, Beine oder eben Steine.

Sein Werk bringt die Ziele von Litar anschaulich zum Ausdruck: abseits vom Etablierten kleine und grosse Steine ins Rollen bringen und damit etwas bewegen. Das Übersetzen als eigenständige künstlerische Leistung verstehen. Und der Sprache und Mehrsprachigkeit im Alltag einen künstlerischen Wert geben.